Claudia Radermacher-Lamberty ist Diplom-Psychologin in der Caritas Familienberatung Aachen und Autorin dieses Beitrags.DiCV Aachen
Noch vor einigen Wochen ging das Leben seinen "gewohnten Gang". Wir gingen in den Tag hinein, ohne ständig und auch bewusst über mögliche Gefahren im Leben wie Unfälle oder Krankheiten nachzudenken. "Ich bin schon sicher", "mir wird schon nichts passieren", "ich kann mich schützen" oder auch "vieles in meinem unmittelbaren Leben ist vorhersehbar" - Gedanken, die uns normalerweise glauben lassen, das Leben unter Kontrolle zu haben und es aktiv beeinflussen zu können. Und doch sind dies Illusionen über das Leben, was wir latent und unterschwellig auch wissen. Jederzeit kann uns etwas passieren, über viele Ereignisse haben wir keine Kontrolle - aber würden wir z.B. morgens, bevor wir das Haus verlassen, über alle möglichen Gefahren nachdenken, gingen wir erst gar nicht aus dem Haus. So sind all diese Illusionen über die vermeintliche Kontrollierbarkeit des Lebens wie ein "Schutzmantel" für unsere Seele, die uns Sicherheit geben, handlungsfähig und stark machen.
Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, haben diese unbewussten "Illusionen", dieses Gefühl von Sicherheit verloren. Das beeinträchtigt ihr weiteres Leben so massiv und oft nachhaltig negativ.
Und jetzt? Wir befinden uns alle in einer Situation, die für uns nicht mehr eindeutig kontrollierbar scheint. Unser (gewohntes) Gefühl von Sicherheit ist weg. Es gibt zurzeit weder ein wirksames Medikament noch eine Impfung gegen das Corona-Virus, und viele Informationen vergrößern noch unsere Unsicherheit. Dazu kommt, dass die wahrgenommene Bedrohung "nebulös" ist, unsichtbar, für uns unbekannt und nicht einschätzbar. Dies löst in uns als eine normale Reaktion Angst und Stress aus. Evolutionsgeschichtlich hat unsere Angst eine wichtige Funktion: Sie aktiviert Schutz- und Überlebensmechanismen, um sich in Gefahrensituationen angemessen verhalten zu können ("flight or fight"). Diese Funktion kann sie nur erfüllen, solange nicht zu viel Angst unser Handeln blockiert oder zu wenig Angst reale Gefahren und Risiken ausblendet.
So unterschiedlich wie wir Menschen sind, so unterschiedlich gehen wir mit unserer Angst und unserem Stress um. Wir haben unterschiedliche psychische Bewältigungsmechanismen bei Angst und Stress:
- Manche Menschen wehren ihre Angst durch Verleugnung oder Verharmlosung ab ("mir passiert schon nichts", "alles wird übertrieben" etc.). So fühlen sich viele Jugendliche häufig "unverwundbar".
- Andere Menschen entwickeln ein hohes Maß an Angst bis hin zur Panik ("nichts wird mehr normal" etc.).
- Andere reagieren auf ihre innere Angst mit aggressiven Verhaltensweisen, wie z.B. die Suche nach den Schuldigen, Ausgrenzung und "Bashing" von schon Erkrankten etc.
- Manche Menschen entwickeln oder werden zu Anhängern von Verschwörungstheorien, um wieder Halt und Orientierung zu finden, und so ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen sowie sich wieder selbstwirksam zu fühlen.
- Anderen gelingt es besser, die Balance zu halten zwischen Sorge, Vorsicht und Verantwortung einerseits sowie Zuversicht und Vertrauen andererseits.
Die aktuelle Krise lässt uns alle angespannt und aufgeregt sein. Das hat Folgen für Kinder, Erwachsene und alte Menschen. Bei allen aktiviert die Krise mit all ihren Einschränkungen unser Bindungssystem, d.h. wir suchen Unterstützung, Schutz und Trost bei unseren Bindungspersonen. Für Kinder sind das in der Regel ihre Eltern, für die Erwachsenen z.B. Partner, Eltern oder gute Freunde und für alte Menschen beispielsweise die eigenen Kinder oder auch feinfühlige Pflegepersonen. Körperkontakt kann dabei unser Stresssystem besonders gut beruhigen und unser Immunsystem wieder stärken. Die zurzeit gebotene soziale und auch körperliche Distanz bzw. Abstinenz bedeutet daher eine große psychische Herausforderung für alle. Und für Familien kommt noch dazu, dass Eltern und Kinder jetzt für ungewohnt lange Zeit auf engem Raum bleiben müssen und sich wegen der Bewegungseinschränkungen nicht so aus dem Weg gehen können wie es sonst im normalen Alltag möglich ist.